Lateinisches Kaiserreich

Lateinisches Kaiserreich
I
Lateinisches Kaiserreich
 
Auf den Kreuzzugsaufruf des Papstes Innozenz III. fanden sich 1199 bei einem Turnier in der Champagne die ersten Kontingente unter Führung der Grafen Theobald von der Champagne und Ludwig von Blois ein, denen sich bald auch Graf Balduin von Flandern und Hennegau anschloss. Die drei Grafen, die sich als Organisatoren des künftigen Kreuzzuges verstanden, nahmen nun Verhandlungen mit der Seerepublik Venedig über den Transport des Kreuzfahrerheeres auf, wobei in einem geheimen Zusatzabkommen Ägypten als Angriffsziel des Unternehmens festgehalten wurde.
 
Als sich das Heer im Laufe des Jahres 1202 in Venedig sammelte, geriet man bald in Geldnöte, da statt der kalkulierten 35500 sich nur 11000 Mann eingefunden hatten, die Venezianer jedoch nicht bereit waren, den Transportpreis entsprechend herabzusetzen. Den Kreuzfahrern blieb nichts anderes übrig, als den Vorschlag des Dogen Enrico Dandolo, als Gegenleistung für einen Schuldenaufschub die christliche Stadt Zadar (Zara) für Venedig zurückzuerobern, in die Tat umzusetzen (Nov. 1202). Papst Innozenz III. reagierte darauf zwar mit der Exkommunikation der Venezianer, der Kreuzzug selbst wurde jedoch nicht abgebrochen. Thronstreitigkeiten im Byzantinischen Reich gaben wenig später dem Heer Gelegenheit, in die inneren Verhältnisse des Kaiserreiches einzugreifen. Mithilfe der Kreuzfahrer wurde der von ihnen protegierte Thronprätendent Alexios zusammen mit seinem geblendeten, aus der Kerkerhaft befreiten Vater Isaak in Konstantinopel als Kaiser eingesetzt.
 
Bald gab eine Palastrevolution, in der die beiden Kaiser ermordet wurden, den Kreuzfahrern den erwünschten Vorwand, die Herrschaft in der Stadt endgültig an sich zu reißen und das griechische Kaisertum zu beseitigen. In einem Vertrag einigte man sich über die grundsätzlichen Modalitäten des neu zu errichtenden Reiches, dann wurde Konstantinopel belagert, am 13. April 1204 erstürmt und dem Heer zu einer mehrtägigen Plünderung freigegeben. Unermessliche Kunstschätze und ganze Bibliotheken fielen der blinden Zerstörungswut der Plünderer zum Opfer, anderes, wie z. B. die antike Quadriga, die sich heute am Hauptportal von San Marco in Venedig befindet, wurde in die Heimat der Sieger verschleppt. Zum Kaiser des sich nun konstituierenden Lateinischen Kaiserreiches wurde Graf Balduin von Flandern gewählt und mit dem Kaiserpalast, einem Viertel der Stadt Konstantinopel und einem Viertel des Reiches (Thrakien, nordwestliches Kleinasien mit den Inseln Lesbos, Chios und Samos) ausgestattet. Die anderen drei Viertel des Reiches wurden je zur Hälfte Venedig als Eigenbesitz und den Anführern des Kreuzfahrerheeres als kaiserliche Lehen überlassen, wobei Venedig es verstand, neben Teilen der Stadt Konstantinopel die strategisch wichtigen Inseln und Küstenregionen in seine Hand zu bekommen und auf dieser Grundlage ein Kolonialreich im östlichen Mittelmeer aufzubauen.
 
Die Aufteilung und Feudalisierung des Reiches sowie die Beschränkung der kaiserlichen Stellung durch die Einrichtung eines Kronrates führten dazu, dass das lateinische Kaisertum (1204-61) nur noch über einen Abglanz der Macht des Byzantinischen Reiches verfügte, zumal es den neuen Herren nicht gelang, auch die Restbestände griechischer Herrschaft an der Peripherie des Reiches (Nizäa, Trapezunt, Epirus) zu unterwerfen. Am 25. Juli 1261 gelang es Michael VIII. Palaiologos (1259-82), Konstantinopel zurückzuerobern und das Byzantinische Reich wiederherzustellen; die alte Machtstellung konnte nicht mehr erreicht werden.
II
Lateinisches Kaiserreich,
 
Lateinisches Kaisertum, das nach der Eroberung Konstantinopels (13. 4. 1204) durch die Kreuzfahrer des 4. Kreuzzugs mithilfe der Venezianer gegründete Reich, das einen Teil Konstantinopels (fünf Achtel, Venedig erhielt drei Achtel) sowie zunächst ein Viertel des byzantinischen Reichsgebiets (Thrakien, das nordwestliche Kleinasien und einige Ägäische Inseln) umfasste; erster lateinischer Kaiser war Balduin I. (gekrönt am 16. 5. 1204), zweiter sein Bruder Heinrich (1206-16). Unter ihren kurzzeitig regierenden, meist unfähigen Nachfolgern blieb das Lateinische Kaiserreich im Wesentlichen auf Konstantinopel und Umgebung beschränkt. Die in Griechenland errichteten Kreuzfahrerstaaten waren formell dem lateinischen Kaiser als oberstem Lehnsherrn unterstellt, praktisch aber unabhängig. Das Lateinische Kaiserreich, dessen Geschichte durch dauernde Kämpfe gegen Bulgaren und das byzantinische Restreich von Nikaia geprägt war, bestand bis zur Rückeroberung Konstantinopels durch Kaiser Michael VIII. Palaiologos von Nikaia am 25. 7. 1261.

Universal-Lexikon. 2012.

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